Natürlich liegt das an meinem Alter. Und an zu viel Fantasie. Vielleicht auch, um meine Schwellenangst zum 50. zu kompensieren.
Betrachte ich meine bisherigen 49 Lebensjahre, gab es da einige Abbiegemöglichkeiten, wie bei Straßenkreuzungen, die, hätte ich sie genommen, mich zu einem komplett anderen Menschen gemacht hätten.
Es ist das alte „Was wäre, wenn …“-Spiel. Wie bei dieser Redensart: „Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär“.
Ich kann da im Alter von 12 Jahren anfangen. Meine Eltern schenkten mir meine erste Gitarre! Ich habe das Spielen gelernt und geübt und geübt. Es gibt ein Foto von mir, wie ich mit der Gitarre auf dem Bauch dabei eingeschlafen bin. Nur in einer Band war ich nie. Aber hätte ich den Schlagzeuger von meinem Können überzeugen können, dem ich als 17-jähriger vorspielte, vielleicht wäre ich dann Rockstar geworden: Konzerte, Plattenaufnahmen, Ruhm, Reichtum, Groupies und Drogen. Und freilich Hotelsuiten zertrümmern. Und mein Leben endete mit 27. Wie bei Jones, Hendrix, Morrison, Joplin, Cobain und Winehouse. Willkommen im Klub!
Etwas absolut normales wäre mir mit 21 Jahren passiert. Frisch aus der Lehre kommend hätte ich als Schlosser weiter arbeiten können. Vielleicht hätte ich in der Produktion an einer Drehmaschine gestanden. Oder mit dem Schweißgerät sauber Flansche an Rohre geschweißt. Es wäre ja nicht so gewesen, dass ich kein gutes Geld verdient hätte. Ich hätte eine Blondine mit großen Titten (als Arbeiter sagt man das eben so) kennen gelernt, geheiratet und zwei Kinder gezeugt. An Feierabend mein Bier getrunken. Wir hätten einen Schrebergarten gehabt, wo ich von der Laube bis zum Grill alles selbst gebaut hätte. Inklusive verschweißten nicht rostenden Edelstahl. Und jeden Mittwoch und Samstag die Lottozahlen. Bis zur Rente. Wo ich mit meiner Frau auf Kreuzfahrten gegangen wäre.
Eine andere Lebensalternative erwähne ich nur kurz. Für eine Weile, gerade als ich sehr attraktiv für das weibliche Geschlecht war, zog ich es in Erwägung, Priester zu werden. Katholischer Priester. War es Berufung oder Versuchung? Ich glaube, jeden Sonntag eine Predigt zu halten, hätte mir viel Spaß gemacht – es ist ähnlich wie eine Lesung!
Zeitlich sind wir nun bei meinem Studium. Und dabei bei der letzten Überlegung. Für meinen Studiengang hatten wir mindestens ein Praktikum zu machen. Nach dem Pflichtpraktikum war mein zweites Praktikum bei einem Radiosender. Einem Lokalradio. Zwar hatte ich keine Sendezeiten am Mikrofon, doch es war sehr aufschlussreich und ungeheuer lustig, in der Redaktion mitzuarbeiten. Raus zu fahren, um O-Töne aufzunehmen und sie Beitragsfähig zusammen zu schneiden. In dieser Zeit war das magische Wort Volontariat. Als Radiovolontär wird man als Moderator und Redakteur ausgebildet und dann fest ins Team übernommen. Als ich anderthalb Jahre später davon erfuhr, dass dort eine Stelle als Volontär frei wurde, habe ich mich beworben. Beim Radio zu arbeiten, wäre die Erfüllung eines Traums gewesen. Eigene Sendungen, davon bestimmt auch eine Musiksendung, Studiogäste und immer Top Themen. Meine Bewerbung wurde abgelehnt. Aus der Traum.
Ob ich selbst die Kurve genommen habe oder andere darüber entschieden haben, dass ich heute der bin, der ich bin – es ist ok. Ich bin kein berühmter Rockgitarrist, kein Facharbeiter in einer Fabrik, kein Geistlicher und keine Stimme aus dem Radio geworden. Und das ist schon ok. Damit kann ich leben.
[Beitrag Nr. 350]
Gern wird ja mal den verpassten Chancen nachgetrauert. Hätte ich doch oder hätten die doch… Da ist es echt angenehm, dass du einen pragmatischen Ansatz verfolgst. Es steckt zwar kein Plan hinter alledem, aber es ist keineswegs sicher, dass irgend ein anderer Weg besser gewesen wäre. Es sind nur manchmal die Kreuzungen, die einen glauben lassen, dass die Straße gleich rechts direkt ins Glück führt. Dabei hat man nur das Sackgassenschild übersehen.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, Manfred! Sehr gut finde ich das Bild mit der „Sackgasse“! Übrigens konnte ich mich schon früh von einem Lebens“Plan“ verabschieden. Ich beobachte aber, dass einige sehr junge Menschen ihr komplettes Leben strikt durchplanen oder von ihren Eltern durchgeplant bekommen. Oft sogar gelingt es, Ausbildung, guten Job und dann die Liebe im Eiltempo abzuhaken. Ob ich aber mit ihnen hätte tauschen wollen, bleibt äußerst fraglich.
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Glück oder, wenn wir es etwas niedriger aufhängen wollen, Zufriedenheit lässt sich glaube ich nicht planen. Wobei, wie ich gestern noch gelesen haben, Geld allein nicht glücklich macht, man muss auch noch die richtigen Sachen kaufen.
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ps: bei dem Foto hättest du auch ins TV, in eine Samstagsabend Show gepasst
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Du kannst nur der sein, der du heute bist weil du genau das er- und gelebt hast was hinter dir liegt.
Es gilt in diesem Leben Dinge zu durchlaufen, durchleben und zu leben.
Im nächsten nimmst du mir die Beichte ab weil ich ein Hotelzimmer zertrümmert habe :)
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Der Mythos, es gäbe vielleicht ein anderes Leben, oder ein zweite Chance, wäre für mich Grund für Fatalismus, denn was ich in diesem Leben nicht erreiche, auf den Punkt gelebt habe und zumindest versucht habe, verschiebe ich dann auf eine nebulöse Wiedergeburt. Man kann so nicht denken, wenn man die Energie eines „Machers“ in sich spürt. Und ich verrate Dir etwas: noch mal von vorn mache ich diese Scheiße nicht mehr mit! ;-)
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Interessante Überlegungen. Könnte man glatt mal selbst auch so machen.
Im Übrigen denke ich da mehr an „eine kausale Kette von Ursache und Wirkung“, als an alles andere.
Was ich NICHT glaube, ist, dass ein anderes Abbiegen dich „zu einem komplett anderen Menschen“ gemacht hätte. Dein Menschsein, das du mitgebracht hast, wäre immer noch das Gleiche gewesen.
Wäre ICH anders abgebogen, wäre ich heute ev. Physiker, würde mit Hawking Schriftverkehr pflegen, und beim Absturz bei einer meiner Bergtouren vermutlich die Erkenntnis erlangen, dass Newton recht gehabt hat …… oder was auch immer.
Aber letztlich kam es so, wie es kam. Das Leben ist kein Ponyhof. Und auch irgendeine Entscheidung im Nachhinein als Fehler zu interpretieren, ist in meinen Augen schlichtweg falsch (wobei ich nicht behaupte, du hättest das gemeint). Denn zu jedem Zeitpunkt treffen wir DIE Entscheidungen, die wir als die Besten erachten. Und das sind sie zu dem Zeitpunkt auch. Dies im Nachhinein anders zu betrachten, ist eine Möglichkeit, hat aber mit der Realität schlicht nichts zu tun.
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Es ist schön zu wissen, dass sich hier anscheinend zufriedene und abgeklärte Menschen diesen Beitrag durchgelesen haben. Ich kenne aber durchaus furchtbar zerrissene Menschen, die nicht mehr rückgängig zu machende Entscheidungen oder Ereignisse bereuen und unter ihnen leiden. Damit wollte ich Deinen Kommentar nicht schmälern, Smamap, und Dir auch Recht geben, dass ich auch in anderen Berufen noch der gleiche Mensch geblieben wäre, wenn man davon ausgeht, dass sich die Persönlichkeit nicht ändert. Nun, es ist eben ein „Gedankenspielchen“.
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Ich nehme an, Du lebst sogar sehr gut damit :-).
Du triffst gerade meine Reminiszenzen: Ich wollte Kriminalistin werden und als ich sehr viel jünger war: Fallschirmspringerin. Dann wurde ich durch einen Gesangslehrer des Operettentheaters Dresden entdeckt, der unbedingt wollte, dass ich Gesang studiere.
Nach einigen Auftritten fand ich das doof, denn ich musste vor SED-Funktionären auftreten, die so trocken reagierten wie sie aussahen.
Also habe ich nichts von alledem gemacht und kann – so wie Du – damit leben. Irgendwie hat man doch genügend gelernt, oder?
Schicksal? Fügung? Glück ist ja das, was man daraus macht.
Danke für die Einblicke in Dein Leben, Christoph und herzliche Grüße aus dem stürmischen Sachsen
Sylvia
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Danke für Deinen Kommentar, Sylvia! Ich frage mich auch, was uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind: eine kausale Kette von Ursache und Wirkung, Schicksal, Glück, Fügung, Vorherbestimmung? Haben wir das Leben in der Hand oder das Leben uns? Ich hätte auch als Titel dieses Beitrages schreiben können: „Ich habe nichts bereut“. Ende gut, alles gut. Übrigens eine kriminalistische Operettensängerin, die mit dem Fallschirm auf die Bühne springt, wäre zumindest … äh … ungewöhnlich gewesen! ;-)
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Jetzt habe ich gerade herzlich gelacht! Ich wollte ähnliches schreiben, doch fiel mir solch eine passende Be(Um-)schreibung nicht ein – KLASSE! :-)
Ich glaube, beides trifft zu: Das Leben hat uns in der Hand (weil Dinge ohne eigenem Agieren so geschehen) und wir haben das Leben in der Hand (weil wir Entscheidungen zu treffen haben, Wege gehen, umkehren, Wege neu einschlagen).
Du siehst, offenbar könnten wir ewig darüber philosophieren.
;-)
Anderer „Schriftkram“ folgt morgen ….
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sehr interessanter einblick in dein leben, vielen dank! vielleicht sollte ich solch ein was-wäre-wenn-spiel auch mal betreiben. da hätt ich auch diverse kreuzungen zu bieten ;-)
schönste grüße!
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Ich danke Dir für Deinen Kommentar! Man kann auch das Spiel spielen: Was wäre, wenn die gute Fee käme und sagt: „Du hast drei Wünsche frei!“ Würde ich mir wünschen, sie sollte mich beispielsweise zu einem Rockstar machen? Nein! Alle verpassten Gelegenheiten oder alle bewußten Entscheidungen machen einen schließlich zu dem, der man ist, und damit habe ich nun mal kein Problem. Ich wünsche Dir einen traumhaften Abend!
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gute idee! ;-)
aber leider weiß man irgendwann, dass sich hinter jedem wunsch ein haken versteckt… ich bin auch sehr zufrieden mit dem, was ist. aber manchmal bin ich zu ungeduldig und kann nicht warten. hach, ich wünsch dir auch einen traumhaften aben!
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