Ausgebrannt

Ich sitz hier so. Ein syrischer Grill. Im Essraum kann ich durch ein großes Fenster auf die Straße sehen. Es ist Nacht. Man erkennt alle halbe Stunde den Nachtbus. Viel mehr ist auch nicht los.
Zwei Tischreihen hinter mir ein großer, schlanker Mann, der mit seinem Döner fertig ist. Er telefoniert ins Handy. Ich brauche mehrere Minuten, um klar abzugrenzen, dass er holländisch spricht und nicht westfälisch. Es sind die Rachenlaute. Die wären Westfalen zu obszön.
Mein Haar hat seit einer Woche kein Shampoo mehr gesehen. Der Bart hat längst die drei Tage Marke überschritten. Ich hasse das alles!
Ich habe keine Depression, doch auch keine Kraft mehr. Ich bräuchte Urlaub.
Der Holländer telefoniert, im Ofen ist meine Sonderbestellung, eine Pizza Calzone, die nicht auf der Karte steht und ich warte. Generell wartet man ja immer auf etwas. Auf Post, auf besseres Wetter und darauf, dass mein neues Buch aus der Druckerei kommt. Irgendwie auch auf ein besseres Leben. Wüsste ich, wie das geht, hätte ich längst eins …
Niemand kann sich vorstellen, wie viel Arbeit es macht, ein Buch zu veröffentlichen! (Außer andere Autoren.) Egal, wie groß es ist, egal wie viele Seiten es hat. Bei mir lagen hoch wichtige Entscheidungen noch bis zur letzten Minute vor dem Druck. Jeder Buchstabe, jedes Pixel des Buchumschlags sollten künstlerischer Ausdruck sein.
Ich bin also hier im Grill und komme mir vor wie Winston Smith. Wie im Café „Zum Kastanienbaum“. Immer wird das Glas mit Gin nachgefüllt. Am Ende liebte er den großen Bruder. 1984. Mit einem Freund habe ich damals den Kinofilm gesehen. Er ist dabei eingeschlafen …
Die Bedienung bringt die Pizza. Ich lächle und bedanke mich.
In diesem Moment habe ich das Fenster nicht im Blick.
In diesem Moment hätte meine Traumfrau vorbei gehen können.
Aber vielleicht hätte sie zufällig nicht hineingeschaut.

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4 Kommentare

Eingeordnet unter 2017, Buch 4, Das neue Buch

4 Antworten zu “Ausgebrannt

  1. Oh, dieses „Museums“-Ende hört sich auch passend an. Bei Gipsfiguren fällt mir nur George Segal ein (https://de.wikipedia.org/wiki/George_Segal_(K%C3%BCnstler)). Aber da hättest Du dann wahrscheinlich mehr erklären müssen – insofern trifft Orwell schon besser. Deine Schluss-Sätze (die mögliche verpasste Chance am Fenster) sind übrigens super :-)

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    • Ha ha! Das genau war ja mein Problem! Ohne die Angabe des Künstlers und der Installation hätten meine geneigten Leser nicht den Wiedererkennungseffekt haben können …Nein, der Segal ist nahe dran, aber so viel hat er dann auch nicht gemacht, oder es ist ein kaum erwähnenswertes Objekt. Solltest Du im Juni (?) hier sein, dann freue Dich auf die Skulpturausstellung! Die gibt es nur alle 10 Jahre hier. (Ich kann nicht fassen, dass ich sie schon das dritte Mal erlebe …) Überall im öffentlichen Raum Installationen, Objekte und Skulpturen. So sind die drei „Aaseekugeln“ von Claes Oldenburg von 1977. Nicht alles bleibt hier für immer,

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  2. Na, ich hoffe die Calzone hat Dir trotz schwerer Gedanken gut geschmeckt. Schöner, stimmiger Text, ich seh Dich genau da sitzen wie Winston, nur nicht (hoffentlich) so verloren. Liebe Grüße!

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    • Vielen Dank, werter Kollege! Ja, die Calzone war exzellent! Ich glaube fast, nachts um 10 in einer Kebap-Bude kann man nichts anderes denken … ;-) Ich hatte für den Schluss noch Kunst aus einem Museum im Kopf. Ende der 80er / Anfang der 90er war ich irgendwo in einem großen Museum hier. Düsseldorf, Köln oder so. Es waren lebensgroße Figuren aus Gips. Eine männliche Person saß in einem Café draußen auf der Straße ging eine Frau vorbei. Relativ nahe aneinander geordnet und doch sahen sie aneinander vorbei. Ich habe es nie vergessen, aber wie dieses Objekt hieß oder wer der Künstler war, kann ich nicht mehr in Erfahrung bringen. Es ist symptomatisch für die Zeit, in der wir leben. Viele haben die gleichen Bedürfnisse, fühlen sich einsam, aber sie begegnen sich nicht mehr.

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