Der Alarm

Heute schlenderte ich von der Fahrradwerkstatt heim. Mein Rad sollte vorne einen neuen Mantel und einen neuen Schlauch bekommen. Abgefahrenes Profil.
Ich gehe dann gerne in wenig belebte Nebenstraßen.
Über allen Dächern heulte etwas auf. Ich kannte diesen Ton. Es wurde Sirenenalarm gegeben.
Da war ich nun allein auf dieser Straße. Und Gedanken von heute mischten sich mit alten Ängsten. Kam jetzt nur noch ein infernalischer Blitz und das war es jetzt mit uns? Alles nur noch atomarer Staub und Radioaktivität?
Weil doch Putin die Atomrakete hat. Weil er machen kann, was er will. Weil wir wieder heißen Krieg haben, ganz in der Nähe.
Damals in der BRD hatten uns unsere Eltern aufgeklärt, dass wenn die Sirenen aufheulten, es nur ein Probealarm war.
Tatsächlich gehörte für mich als Kind das unüberhörbare Signal Samstagmittags zum Wochenende. Zum Frieden. Und nach Glasnost und dem Mauerfall wurde es sogar abgeschafft.

Doch zuvor bekamen wir die Politik der Abschreckung deutlich zu spüren, als in Deutschland die Pershing II-Marschflugkörper stationiert wurden. Amerikanische Raketen mit atomaren Sprengköpfen auf Ziele in der Sowjetunion ausgerichtet. In deren Vorgarten. Man brauchte kein Militärstratege zu sein, um sich auszurechnen, dass bei einem russischen Erstschlag deutsche Ziele sofort ausradiert werden würden. Das war‘s dann mit Bier, Bockwurst Sauerkraut und deutscher Gemütlichkeit … Und das machte wirklich Angst.

Für die Jüngeren hier: Was waren der „rote Knopf“ und „das rote Telefon“? Mit dem roten Knopf löste der amerikanische Präsident oder der Generalsekretär der U. D. S. R. den Start von atomaren Waffen aus. Die mehrfache Vernichtung des ganzen Planeten. Einmal reichte ja nicht …
Das rote Telefon war eine Direktleitung von Washington nach Moskau. So nach dem Motto: „Bitte entschuldigen Sie, da hat eine Maus ein elektrisches Kabel durchbissen. Da sind einige Raketen unterwegs. Würden Sie bitte nicht zurückschießen?“

Als Jugendlicher organisierte man sich zu den Ostermärschen und Demonstrationen. Eine richtige antiamerikanische Haltung machte sich breit. Hielt aber keinen davon ab, darüber zu philosophieren, ob Coca-Cola oder Pepsi die richtige Cola sei …
Der Mittelstand hielt die Bewegung gegen das Atom und für den Frieden von russischen Agenten infiltriert, um ihre freie Marktwirtschaft zu stürzen. Das war Paranoia. Wir hätten ja jede Hilfe angenommen, wenn nur das ganze Waffenarsenal vom Planeten verschwunden wäre. Aber die gab es nicht. Wir sind ganz allein darauf gekommen, dass nach dem „atomaren Holocaust“ die einzige Nachhaltigkeit Uran 92 gewesen wäre.
Schießt doch die Strahlenraketen in die Sonne, das wäre ein schönes Feuerwerk! Und Rudi Carrell hätte aufhören können zu singen: „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“.
Es war im Grunde eine Zeit voller Gegensätze, Doppelmoral und Synthie-Bands. Alte Männer spielten mit Raketen, wir drehten unsere Ghettoblaster auf. Oder verbauten große Boxen in unsere ersten Autos.

Ich schritt heute weiter, während der Alarm lief. War verunsichert. Den deutschlandweiten Probealarm habe ich zufällig nicht gehört. Ist es nun auch wieder ein Test für den Ernstfall? Ich musste nach Hause, um das Radio einzuschalten.
Dann bog ein normales Auto in die Straße. Und zur Hauptstraße hin wurde es belebter. Passanten kamen vorbei. Ich hatte schon auf der Zunge: „Ist das jetzt echt?“
Es kam noch ein wellenförmiges Signal zum Schluss. Hieß es früher nicht, bei einem wirklichen Angriff mit Atomwaffen gäbe es überhaupt keine Vorwarnung?
Im Radio. Im Radio witzelten die Moderatoren schon. Ja, Probealarm. Ein Test nur in unserem Bundesland. „Hab da so ein Pfeifen in den Ohren, was war das?“ Was für Penner! Ich durfte 50 Jahre im Vollfrieden leben und nun müssen alle Signalanlagen getestet werden, um wieder bereit zu sein. Bereit für Tod, Zerstörung und Flucht, wenn es noch geht. Das, was die Ukrainer durchmachen. Jetzt, in dem Augenblick, in dem Sie das lesen.

Später, als ich die SMS von der Fahrradwerkstatt bekam, dass ich mein Rad wieder abholen könne, bemerkte ich eine weitere SMS.
„Achtung! Amtliche Meldung. Probewarnung. Es besteht keine Gefahr. Lagezentrum der Landesregierung“ Kam eine Minute vor dem Alarm.
Ich hatte zufällig mal mein Handy mit. Und es war auch tatsächlich eingeschaltet. Aber als Handy-Feind dachte ich nicht mal daran nachzuschauen.
„Es besteht keine Gefahr.“ Kein Grund zur Sorge. Weitermachen wie bisher …
… wenn die wüssten …

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5 Kommentare

Eingeordnet unter Allgemein

5 Antworten zu “Der Alarm

  1. Sirenen empfinde ich anders.

    Ich nahm sie das erste Mal wahr, als ich wegen der Liebe nach Österreich gekommen bin. Ich war oft bei meinem damaligen Freund und seiner Familie in der Ortschaft nähe Wien. Darüber hinaus waren er, sein Bruder und sein Vater Mitglieder bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr. Und wenn die Sirene nicht nur samstags um 12 Uhr probeweise ertönte, flitzten die drei, plötzlich vollgepumpt mit Adrenalin, aus dem Haus und wenn ich dabei war, hatte ich nicht selten ein mulmiges Gefühl und hoffte im Stillen, dass alles gutgehen möge.

    In der Großstadt höre ich kaum Sirenen, aber in ganz Österreich findet jährlich an einem ersten Samstag im Oktober der Zivilschutz-Probealarm statt. Dann höre ich die Sirenen auch in Wien.

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