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Inflation einer Redewendung

Ich kann ja vielleicht ab und zu die Augen schließen, wenn ich unterwegs bin. Meine Ohren jedoch nicht. Mancherlei Modewörter versetzen mir stets einen Stich, wie das Stilett zwischen die Rippen. Da gibt es die Achtsamkeit. Oder das nachhaltige. Ich habe Nachhaltig tatsächlich in der Beschreibung eines gut erhaltenen Kinos aus den 50er Jahren gefunden …
Für mich ist der Fall klar. Es sind Modewörter, Etiketten, die man nun auf alles kleben darf. Ja, kleben muss, um damit Geschäfte zu machen. Die vielen neuen Produkte für Veganer. Als ob es von heute auf morgen keine Vegetarier geben darf.
Und jetzt gerade verbreitet sich mit großer Geschwindigkeit eine Redewendung wie die Vogelgrippe: „Alles gut!“ Auch ohne Ausrufezeichen. Meist wird sie verwendet, wenn sich das Gegenüber für etwas entschuldigt, und man durch diesen Satz, dem das Verb „ist“ fehlt, zu verstehen geben möchte, das man gerne verzeiht und es keine große Sache ist.
Ich glaube, zum ersten Mal habe ich es vor Monaten beim Arztbesuch gehört. Nach dem Motto, eine Rechtfertigung ist nicht nötig. Vielleicht auch, um Zeit zu sparen, denn das Wartezimmer war noch voller Patienten.
Die Seuche nahm ihren Lauf.
Ich bringe es nicht über die Lippen. Wie der beliebte Abschiedsgruß Mitte der 90er Jahre: „Und tschüss!“ (Stets mit Ausrufezeichen.)
Wenn etwas inflationär wird, ist es nicht mehr originell. Auch wenn noch der Reiz des neuen anhängt, etwas mildes und menschliches im Umgang miteinander noch innewohnt, möchte ich mir nicht vorstellen, wenn es die feiste, ruppig fahrende Busfahrerin sagt.
Eigentlich gehört doch dieser Satz in einen Abenteuerfilm, wo der Held das erste Mal die Prinzessin umarmen darf und nach den überstandenen Gefahren meint: „Alles wird gut!“ Ich hörte es heute Morgen von einem großen, beleibten Kunden mit Jägermantel in der Bäckerei, der einer Bäckereifachverkäuferin auf 400 € Basis nachsah, dass eine Sorte Semmeln noch im Backofen waren.
Es kann natürlich auch sein, dass „Alles gut“ ein ebenso unverbindliches Versprechen ist, welches uns die Kanzlerin letztes Jahr gab: „Wir schaffen das!“ So etwas wie eine Art Denk-Kaugummi. Kann man benutzen so lange man will, und wenn man’s nicht mehr braucht, klebt man es irgendwo hin.

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Berge und Meer

Am Meer war ich mehrmals. Unverbauter Horizont. Kann schnell öde werden. Ich habe die Berge noch nicht gesehen. Weder die Alpen über- noch durchquert. Ich muss da auch nicht daran rumklettern. Nein.
Was ich schon immer liebte, war die Tiefebene. Ganze Landstriche auf einem Niveau. Wo ein Findling im ordentlich gepflegten Vorgarten Aufsehen erregt.
Ich wuchs auf dem flachen Land auf, später wechselte ich ein paar Breitengrade weiter nördlich und hatte Aussicht satt. Sofern nicht verbaut.
Früher konnte ich bei uns im oberen Stockwerk am Fenster stehen und sehen, wann mein Vater Feierabend hatte. Hinterm Fabriktor stieg er aufs Rad und radelte heim. Das waren gut sechs bis sieben Kilometer. Natürlich nur, wenn kein Nebel war. Oder die Bauern nicht ihre Felder düngten, wobei sich die Sonne weigerte, bis zum Boden zu scheinen.
Während ich auf meinen Vater sehnsüchtig wartete, konnte man große Industriewerke weit entfernt an ihren Schornsteinen und den Wolken erkennen, die sie ausstießen. Schwermetall.
Klar, Kirchturm bei uns mit Uhr. Und schräg gegenüber der kleine Zeitungs- und Kurzwarenladen, von dem ich wusste, dass das neue YPS-Heft angekommen war.
Unser Stadtteil war ein wenig isoliert. Vom Stadtzentrum durch einen Gürtel Felder getrennt. Aber die Trasse der Straßenbahn führte schnurgerade in unseren Ortskern. Und mein Papa radelte daran entlang. Auf einer breiten Straße mit Radwegen. Jeden Tag. Manchmal auch samstags. Als ich ihn mal fragte, warum er nicht die Straßenbahn nehmen möchte, sagte er mir: „An der Haltestelle warten ist langweilig. Da weiß ich nicht, was ich machen soll außer rauchen.“
Es gab nur eine Ausnahme, bei der mein Vater in die Straßenbahn stieg. Im Winter, wenn es morgens noch lange dunkel, und es aussah als falle der Schnee aus den Straßenlaternen. Wenn er als kräftiger und zäher Mann nicht mehr durch die Schneewehen fahren konnte. Oder bei spiegelnder Glätte und es genauso gefährlich war, die Glätte nicht zu sehen.
Ich überlege mir heute, dass mein Vater, der sein Fahrrad pflegte und liebte, sein Geld vielleicht lieber sparte, als jeden Tag ein Ticket zu lösen.
Als er da war, wir Kinder und meine Mutter ihn herzlich begrüßten, als wäre er für Monate weg gewesen, hat er mir die zweimarkfünzig für das YPS-Heft spendiert.

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