Fünf Wochen sind hier Weihnachtsmärkte geöffnet. An fünf Stellen in der Innenstadt. Der große Marktplatz darf nicht besetzt werden wegen des Wochenmarkts mittwochs und samstags. Da wirken die Weihnachtsmärkte eher wie eine Notdurft. Was der Kitsch, Konsum und Krempel mit dem Christenfest zu tun hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Es gibt Naschwaren, Dekokram, Fahrgeschäfte für Kinder, gebratenes und gebackenes Essen bis hin zu Geschenken, Schmuck und natürlich den Glühwein.
An jeder Ecke hörst du zwei Mädchen Blockflöten quälen. Man sollte ihnen Geld geben, damit sie es lassen!
Ich war etliche Jahre nicht mehr dort, nur aus dem Busfenster geschaut, wenn sich meine Linie durch die Menschenmengen quälte. Große Ansammlungen von Menschen. Wenn man in einer Traube von Leuten steckt, und es geht nicht vor und nicht zurück. Man wird geschoben und gedrängt. Das ist mir sehr unangenehm.
Bei Regen und 13 Grad haben die Weihnachtsmärkte nun wieder geöffnet. Dieses Jahr will anscheinend jeder mit mir dort hin. Die Kollegen an Feierabend, Bekanntschaften, ja auch Freunde von außerhalb. Am liebsten aber ginge ich mit ihr.
Die erste Woche hat sie sich nicht gemeldet. Aber dann die SMS. Welch ein origineller Einfall, am nächsten Samstag zusammen über die Weihnachtsmärkte zu gehen. Ab 11 Uhr sind die Stände und Buden geöffnet. Sie möchte jedoch nach Einbruch der Dunkelheit. Wegen der Stimmung. Argumente wie, um 11 ist es noch nicht überlaufen, man sieht doch viel mehr, kontert sie mit einem gewichtigen Argument. Um 11 Uhr denke sie noch nicht mal daran aufzustehen.
Ich bin gespannt, was sie anzieht, wenn wir uns treffen. Wichtiger ist aber, was ziehe ich an? Ich brauche eine Kopfbedeckung, nicht zu dick, nicht zu leicht, denn bei Neigung zu Niederschlägen, so der Wetterbericht, kann man im Gewühl keinen Regenschirm aufspannen. Schuhe? Zur Zeit stehen zur Wahl nur gefütterte Winterstiefel oder dünne Halbschuhe. Der Rest gibt sich.
Ich stehe am Treffpunkt, Bushaltestelle gegenüber Kaufhof. Mann, ist das voll! Dabei ist der Weihnachtsmarkt hinter mir. Kinderkarussell, etwa acht Buden. Sie kommt mit dem Rad. Wie immer winke ich, bleibe stehen. Wie üblich ignoriert sie mich. Schließt das Rad ab. Schlösser sind etwas technisches. Seelenverwandt sind Frauen mit Technik nicht. Auch sie nicht.
Forschen Schrittes will sie die Straße überqueren, doch ist gezwungen, Menschenströme zuerst vorbei zu lassen. Ich drehe mir eine Zigarette. Ich überlege mir, was sie vorher erlebt hat, wenn sie ankommt, als hätte sie Wut, schlechte Laune oder Magenschmerzen. Vielleicht alles zusammen? Oder hat es was mit mir zu tun?
Mit einer finsteren Miene, die gut zu ihrem schwarzen Mantel passt, lässt sie sich umarmen. Mögen die Spiele beginnen!
Nun bin ich also wieder hier. Wir verständigen uns, was wir uns hier auf dem ersten Christmas Market ansehen wollen, und welcher der nächste sein würde. Wie ich sie kenne, würde sie relativ achtlos an den „Fressbuden“ vorbei gehen, sich dafür an Spielzeugständen und Modeaccessoires länger aufhalten. Und am längsten dauert es bei angebotenem Nippes, wie wir zu Hause sagen, oder „Staubfänger“. Dinge zum Hinstellen in der Wohnung, ohne den geringsten Nutzen. Witzig, schön, süß sind dafür die Attribute ihrer Besitzer. Ich korrigiere: Besitzerinnen.
Doch auch für so einen Ernstfall hat mein Akku für Geduld volle Kapazität. Ich erinnere mich zudem, dass irgendwo hinten immer ein Bratwurstgrill war. Bestimmt auch dieses Jahr. Man könnte das eine mit dem anderen verbinden.
Ich erzähle ihr was. Genauer, ich doziere. Erlebnisse und Erfahrungen aus einem elend langen Leben. Das kann ich, ohne dass mir je die Themen ausgehen. Ich habe ja auch nie etwas vergessen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr das gefällt. Sich ihre Stimmung dabei beginnt aufzuhellen. Gerade bin ich bei Zeitzeugnissen aus 1983 angelangt, lässt sie mich ausreden und erzählt etwas über sich aus den 80ern.
Der Verkehr staut sich zwischen Glühweinstand und vermeintlichen Bratwürsten. Ich stelle mich mit meiner beachtlichen Breite schützend vor sie und nehme ihre Hand, um sie nicht zu verlieren. Sie lässt es geschehen. Und ich kann fast sehen, was sie hinter meinem Rücken macht. Sie lächelt.
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Zwischen einem Mann und einer Frau
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Morgens um 6 ist die Welt noch in Ordnung
Ich wollte 50 Cent sparen und habe 2 Euro ausgegeben …
Kurz nach 6 Uhr. Es könnte draußen noch frisch sein. Ziehe mir also etwas Wärmeres über. Während ich das Fahrradschloss öffne, sehe ich grau verhangenen Samstagmorgenhimmel. Eigentlich möchte ich nur eine Kleinigkeit erledigen, Kleingeld über einen Bankautomaten auf mein Konto verbuchen. Doch weil der Automat hier im Viertel eine fuck Störung hat, hangele ich mich von Bankfiliale zu Filiale, nichte jede hat so etwas, bis in die Innenstadt.
Die Innenstadt muss man in drei Gebiete unterteilen. Altstadt, Marktplatz und Fußgängerzone. Wobei die zuletzt genannte das größte Segment darstellt. Von mir aus führt eine schnurrgerade Geschäftsstraße über einen Kreisverkehr in die Innenstadt. Das ist wie eine Fahnenstange mit einem Knubbel im unteren Viertel und oben flattert das Fähnchen meines Stadtteils.
Je näher ich dem Kreisverkehr mit meinem Rad komme, umso langsamer werde ich. Die Morgenluft ist herrlich. Um die Zeit hätte ich den Kreisverkehr auch links herum passieren können. Kein Mensch unterwegs! Wie nach einem Krieg mit biologischen Waffen. Nur ich hätte es verpennt. Und irgendwer hätte schon alle Leichen weggeräumt … Mich hält es nicht mehr auf dem Sattel. Ich muss das Fahrrad vor einer Bank abstellen und die Stille einsaugen. Ich fühle – mich. Bin bei mir. Das geht nicht lange so. Wer kommt da? Ein Zombie? So ähnlich. Ich erkenne ihn wieder. Ein alter, verwirrter Mann, dessen Frühstück um diese Zeit aus einem Coffee to go und einer Dose Bier besteht. In einer Hand hält er noch eine Plastiktüte. Gerne stellt er sich an Bushaltestellen in der Rushhour und hält Vorträge die niemand versteht noch hören will. Durch die Inhalte seiner Reden nehme ich an, er war mal bei der Justiz, Richter oder so. Der Alkoholismus hat ihn aus dem Job und auf die Straße gedrängt. Sein Kopf kippt oft ganz nach unten, als hätte ihn jemand ausgeschaltet. Aber er findet immer noch den Einschalter.
An der nächsten Ecke schließe ich mein Rad ab und gehe zu Fuß weiter. Ich bin in der Altstadt. Und der letzte Automat, den ich kenne, der Kleingeld akzeptiert, ist in der Passage hier. Aber die macht erst um 8 Uhr auf. Tja, wenn ich jetzt wüsste, wie spät es ist …
Ich schaue in die Auslagen der noblen Geschäfte in altehrwürdigem Gemäuer. An der nächsten Ecke biegt ein Marktwagen ein. Ich folge ihm langsam zu Fuß. Mir fällt ein, dass gestern jemand gesagt hat, er wolle heute zum Markt. Witzig, wenn ich ihn treffen würde. Die Chancen sind doch sehr gering, zumal der Wochenmarkt erst noch im vollen Aufbau ist. Und was, außer „Guten Morgen“ sollte ich schon sagen? Ich kenne ihn nicht richtig und finde, es ist eher eine langweilige Person. Ich war auf dem Markt schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ich laufe durch die Gassen, sehe Fleisch-, Käse- und Obststraßen. In der Bäckergasse kann ich es mir nicht verkneifen, zwei Croissants für 2 Euro zu kaufen. Die verputze ich an der Bushaltestelle sitzend. Ich sehe den Wagen vom Ordnungsamt. Ein Beamter und eine Beamtin steigen aus. Gehen langsam zum Markt. Das Bestechungsgeld kassieren, wie ich mir denke. Kurze Zeit später rollen sie mit ihrem Wagen auch schon an mir vorbei.
Die Croissants waren lecker, freilich auch eine diätische Sünde. Ich werfe die Papiertüte in einen Mülleimer. Zurück zur Altstadt. Kaum sind die Beamten vom Ordnungsamt fort, sitzt dort bereits ein Bettler. Ich biege links ab. Arkaden laden zum Fotografieren ein. Ich hab nicht mal ein Handy mit. Statt in die Schaufenster zu schauen, lese ich Schilder an den normalen Türen. Therapeuten, Architekten, Agenturen haben hier ihre Büros. Und es wird hier auch einfach gewohnt. Mitten drin! Vor der Kirche überlege ich kurz, rein zu gehen. Stattdessen setze ich mich auf einen Stuhl an einem Café. Alle anderen sind festgeschlossen. Der Moment, wo alle wach werden, die Straßen und Plätze bevölkern, ist kaum noch hinauszuzögern. In der Fußgängerzone sehe ich hinter verschlossenen Geschäftstüren Reinigungspersonal staubsaugen, Kellnerinnen an den Cafés Schlösser der Stühle aufschließen und wegräumen. Und an der großen Buchhandlung sind Fensterputzer zu Gange. Ich sitze auf einer Bank vor Kaufhof. Glockenschlag zeigt mir an, nur noch eine viertel Stunde. Die Fußgängerzone weiter hoch. Ab und an rollt ein Kastenwagen mit Lieferungen vorbei. Auch Handwerker arbeiten samstags. Außen über einem Geschäft muss etwas gebohrt werden. Der Lärm nervt nicht bloß mich, vermutlich wirft er in den Wohnungen des ganzen Hauses jeden aus dem Bett. Ich hätte nicht gedacht, hier so ein Klischee zu sehen: Blaumann, Hütchen, Kippe im Mund und sein ganzer Stolz die Hilti-Bohrmaschine. Bei einem so jungem Mann … Einige Schritte weiter der nächste Krach – die Kehrmaschine. Ich flüchte an den Ausgangspunkt, wo mein Fahrrad steht. Und siehe da, die großen Türen der Passage werden komplett in den Boden gefahren. Ich kann hinein. Der Schließer grüßt noch „Morgen“, was ich erwidere. Dann bei der Bank zum Kleingeldautomaten und meine 50 Cent eingezahlt. Zurück wieder mit dem Rad. Im Kopf diesen Bericht. Aufwand und Nutzen waren vielleicht in keinem Verhältnis. Aber wer nennt mir den Preis für anderthalb Stunden Freiheit?
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