Ich stehe kurz vor meinem Geburtstag. Beinahe ist dieser tote Sonntag um. Ob ich jedoch schlafen werde können …?
Heute habe ich wieder ganztägig in meiner Wohnung hinter Rollladen ausgeharrt. Die Sonne geht heute astronomisch um 21:53 Uhr hier unter.
Ich denke, dass der Mensch eigentlich nur in sozialen Bindungen >1 überleben kann. Das ist ein Instinkt, den wir schon vor mehr als 12.000 Jahren hatten. Nur in einer Gruppe lässt sich gut nach Mammuts jagen, Kinder aufziehen und alte Menschen versorgen.
Das haben wir nicht verloren. Oder warum ist der Mensch sonst ein geselliges „Tier“?
Manche binden sich fest aneinander, manche haben eine große Palette an unmittelbaren sozialen Kontakten. Familie, Freunde, Kollegen, Vereinsschwestern und -brüder und Kreise, Zirkel, Stammtische. Niemand – so scheint es – muss allein sein.
Warum bin ich es???
Wenn es eine „Winterdespression“ gibt, habe ich die „Sommerdepression“!
Es ist wohl nicht normal, die Sonne und Hitze zu meiden wie ein Vampir. Ich kann meine Argumente dennoch rational vorbringen. Ich habe überhaupt viele interessante Fähigkeiten, Talente und Ideen. Sie werden nur nicht abgefragt.
Ich komme mir vor wie Data, der Android bei Raumschiff Enterprise – The Next Generation, der alles versucht, um menschlich zu sein. In meinem Fall: sozial verträglich.
Doch ich müsste in die sengende Sonne, um sommerliche Kontakte zu haben. Erst mal: Ich fühle ich mich, egal in welcher Verfassung ich meinen Kopf raus stecke, entweder nur komisch angestarrt oder völlig ignoriert. Zum Zweiten, ich habe sie nicht. Die Kontakte. Nicht schön!
Ich bleibe zu Hause. Und bleibe einsam. Das wird zu einem seelischen Schaden!
Soziale Geflechte funktionieren auf der Basis gegenseitigen Wahrnehmens, dann Beachtung und schließlich Reaktion und Gegenreaktion. Es entfällt alles bei mir, besonders im Sommer … Ich hasse das! Ich habe schon alles versucht …
Meine treuen Freundinnen und Freude in meiner Heimatregion sind nicht per Telefon zu erreichen, sie machen ihre Urlaube. Eine Postkarte bekam ich aus der Schweiz.
Überhaupt, sich das Wenige an Aufmerksamkeit per Telefon holen zu müssen, ist bitter …
Es besteht ein so großes Vakuum an Beachtung und Wertschätzung, dass ich ganz gefräßig danach bin. Ich stelle mir vor, in einer Beziehung wäre ich viel ruhiger, künstlerisch aber auch sehr viel fauler, und dass auch mal Zeiten allein genießen könnte. Das gesunde Mittelmaß, das gesunde Mittelmaß …
Nichts wird morgen stattfinden. Begegnungen werde ich nur haben, wenn ich möglicherweise einkaufen müsste. Anonym, oberflächlich. Ansonsten habe ich an persönlichen Kontakten wieder gar nichts planen können.
Ich werde aus der Distanz auf Telefonate, Handynachrichten, Mails, Post und Geschenke warten. Morgen eben.
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Geburtstagsvorabend
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Am Telefon
Etwas später als sonst ruft er an. Fragt freundlich:
„Stör‘ ich dich?“
„Nein“, meint sie und schaltet am Herd das Ceranfeld auf halbe Leistung, „Das Risotto ist erst in einer viertel Stunde schlotzig.“
„So, wie es sein muss“, entgegnet er geistfrei.
Schweigen.
Einmal fragte sie ihn, warum er überhaupt noch anruft. Und warum er nichts sage? Jetzt muss sie ihren Ex-Freund wieder ermahnen:
„Sag was!“
Würde er wieder beleidigt sein, von seiner offenen Wunde sprechen, davon, dass er anerkennt, dass es vorbei ist, aber … blah blah blah?
Er sagt: „Warte mal kurz.“
Wartet nicht ihre Antwort ab, legt das Telefon neben sich, steht kurz auf und holt seine Gitarre.
Er hat länger nicht mehr gespielt. Und weil das Holz und die Saiten leicht auf Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsunterschiede reagieren, ist sie natürlich total verstimmt. So fängt er an, die tiefe E-Saite nach Gehör und dann auf dem fünften Bund mit der leeren A-Saite gleich zu stimmen. Alle sechs Saiten runter.
Irgendwann kann er mit dem Spielen beginnen. Er erinnert sich an das Telefon neben ihm.
Bestimmt hat sie mitbekommen, dass er Gitarre spielen will. Für sie.
Er fragt:
„Hallo?“
Doch am anderen Ende der Leitung ist nichts mehr zu hören.
„Hallo? Hallo?“
Schließlich legt er auf. Stellt die Gitarre zurück in ihre Ecke.
Da war wohl der Risotto schlotzig.
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Zeit heilt Wunden
Es ist hundert Jahre her. Obwohl ich den Hörer vor zehn Minuten auflegte, ist es bereits hundert Jahre her. Ich weiß, wie ich mein Herz versteinern kann. Sie ist nur ein Flirt gewesen, und das ist hundert Jahre her.
Wir saßen im Innenhof des Museums. An einem Sonntag mit 30 Grad. Es gab einen angenehmen Schatten und leichten Wind. Wir vertrauten uns private Dinge an. Wir waren perplex wie sehr sie einander ähnelten. Ich bezahlte ihr Bitter Lemon mit. Umarmte sie zum Abschied. Wieder zu Hause dachte ich über alles nach, worüber wir gesprochen haben. An dem Abend wollte ich mit niemanden mehr reden.
Man kann die Vorstellungen des anderen respektieren, doch sind es nicht die eigenen, muss man den eigenen den Vorrang lassen. Irgendwann sagte sie vorhin am Telefon nichts mehr und legte auf. Das war vor hundert Jahren.
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Schneeweiß
Als ich heute Morgen meinen Vater anrief, sagte er: „Wir haben weißen Schnee.“ Ich überlegte mir, warum er das so formulierte. Schnee ist doch immer weiß, oder?
Nach dem Telefonat grübelte ich darüber. Weiß, weiß, weiß. Mir fiel ein, dass Schnee grau und schmutzig sein kann, wenn die Schneeräum- und Streufahrzeuge ihn an den Rand der Straßen geschoben haben oder die Autos ihn angetaut platt fahren.
Mein Vater gehört zu der Generation der Kriegskinder, die roten Schnee gesehen haben. Blutgetränkt rot … Das vergisst man in 70 Jahren nicht. Hunger, Kälte und Tod.
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Herzensangelegenheit
Der Anruf kam, als ich mir gestern von der Arbeitswoche geplättet eine DVD anschaute. Rechts die Erdnussflips, links Fernbedienung und Telefon.
Es war ihr Mann. Und viel sagte er nicht. Sie hätte es überstanden, das waren seine Worte.
Ich ließ den Film Film sein und krabbelte unter der Decke hervor, und während ich mir einen Tee aufgoss, dachte ich nach.
Wer da gerade etwas überstanden hatte, war eine Freundin, die sich einer Herzoperation unterziehen musste. Mein Gott, sie ist jünger als ich, und musste an sich das Gleiche machen lassen wie mein Vater damals.
Ich habe daher erlebt, dass so eine OP auch ein Eingriff in das emotionale Zentrum ist. Wer Körper und Seele trennt, ist immer auf dem Holzweg. Wenn sie es „überstanden“ hätte, hoffte ich für sie, sie wird es auch psychisch verkraften.
Bei all den Enttäuschungen, den Kränkungen und menschlichen Zurückweisungen, die man erlebt hatte, könnte man von Narben auf dem Herzen sprechen, fiel mir ein. Narben sind wetterfest und nahezu unvergänglich. Es hat einen etwas geprägt und im günstigsten Fall machte man das Beste draus.
Ich konnte nicht mehr sagen, wie mein Vater seine Herz OP überstanden hat, es waren bestimmt nicht bloß die Medikamente. Er hatte unser aller Unterstützung. Sein Eingriff liegt mehr als 25 Jahre zurück und dieses Jahr feierte er seinen 83. Geburtstag. Geistig rege und ohne Hilfe mobil.
Daher wünschte ich meiner Freundin beste Betreuung, eine erholsame Reha, und dass wir unser nächstes gemeinsames Treffen nicht verschieben müssen, um sie – Herz an Herz – umarmen zu können.
Als ich wieder an meinen Tee dachte, war der Teebeutel noch drin und die Tasse kalt geworden.
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