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Berge und Meer

Am Meer war ich mehrmals. Unverbauter Horizont. Kann schnell öde werden. Ich habe die Berge noch nicht gesehen. Weder die Alpen über- noch durchquert. Ich muss da auch nicht daran rumklettern. Nein.
Was ich schon immer liebte, war die Tiefebene. Ganze Landstriche auf einem Niveau. Wo ein Findling im ordentlich gepflegten Vorgarten Aufsehen erregt.
Ich wuchs auf dem flachen Land auf, später wechselte ich ein paar Breitengrade weiter nördlich und hatte Aussicht satt. Sofern nicht verbaut.
Früher konnte ich bei uns im oberen Stockwerk am Fenster stehen und sehen, wann mein Vater Feierabend hatte. Hinterm Fabriktor stieg er aufs Rad und radelte heim. Das waren gut sechs bis sieben Kilometer. Natürlich nur, wenn kein Nebel war. Oder die Bauern nicht ihre Felder düngten, wobei sich die Sonne weigerte, bis zum Boden zu scheinen.
Während ich auf meinen Vater sehnsüchtig wartete, konnte man große Industriewerke weit entfernt an ihren Schornsteinen und den Wolken erkennen, die sie ausstießen. Schwermetall.
Klar, Kirchturm bei uns mit Uhr. Und schräg gegenüber der kleine Zeitungs- und Kurzwarenladen, von dem ich wusste, dass das neue YPS-Heft angekommen war.
Unser Stadtteil war ein wenig isoliert. Vom Stadtzentrum durch einen Gürtel Felder getrennt. Aber die Trasse der Straßenbahn führte schnurgerade in unseren Ortskern. Und mein Papa radelte daran entlang. Auf einer breiten Straße mit Radwegen. Jeden Tag. Manchmal auch samstags. Als ich ihn mal fragte, warum er nicht die Straßenbahn nehmen möchte, sagte er mir: „An der Haltestelle warten ist langweilig. Da weiß ich nicht, was ich machen soll außer rauchen.“
Es gab nur eine Ausnahme, bei der mein Vater in die Straßenbahn stieg. Im Winter, wenn es morgens noch lange dunkel, und es aussah als falle der Schnee aus den Straßenlaternen. Wenn er als kräftiger und zäher Mann nicht mehr durch die Schneewehen fahren konnte. Oder bei spiegelnder Glätte und es genauso gefährlich war, die Glätte nicht zu sehen.
Ich überlege mir heute, dass mein Vater, der sein Fahrrad pflegte und liebte, sein Geld vielleicht lieber sparte, als jeden Tag ein Ticket zu lösen.
Als er da war, wir Kinder und meine Mutter ihn herzlich begrüßten, als wäre er für Monate weg gewesen, hat er mir die zweimarkfünzig für das YPS-Heft spendiert.

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Per Anhalter

Wie bin ich eigentlich an einem Sonntag zu ihr gekommen? Richtig, Tom fuhr mich, setzte mich ab, wendete und machte sich auf den Rückweg.
Ingrid. Ich habe sie immer als eine Affäre zwischen zwei ernsthaften Beziehungen gesehen. Vor mir hatte sie schon viele Männer. Danach sicher auch. Ingrid kreiste immer um einen festeren Kern von Leuten, mit denen ich Spaß hatte und Partys feierte.
Ich war also wieder zu Besuch zu Hause und vor meiner Abfahrt zurück in die neue Stadt lag der Abend mit ihr.
Nach dem Sex machte sie Bratkartoffeln. Etwas, wobei ich nicht helfen konnte oder wollte. Es ist übrigens nahezu unmöglich, dass Frauen Sex und Liebe trennen können. Mir ist noch keine mit dieser Fähigkeit begegnet. Und in gewisser Weise geht mir das auch so.
Bratkartoffeln können eine Ewigkeit dauern. Und so übten wir, in einer Beziehung zu sein. Das ging voll daneben. Ich fragte ungeduldig, wann das Essen fertig wäre. Sie musste wiederholt betonen, dass es dauern würde. Damit ich meinen knurrenden Magen nicht mehr hören musste, legte ich eine neue CD auf, die ich mitgebracht hatte. Ich war ja damals schon Autor und wusste, diese Musik würde mich zu etwas inspirieren. Das fertige Essen kam dazwischen. Ich fand, dass einige Kartoffelscheiben noch roh waren. Sie am Tellerrand zurück zu lassen, war ein Vorwurf Richtung Köchin.
Danach widmete ich mich wieder der CD. Es war spät, sie rief zu Bett.
„Ja, gleich.“ Ich hatte schon Papier und Stift in der Hand …
Ingrid hat mich nur ins Bett bekommen, weil ihre Stimme im Bereich hysterischer Dissonanzen lag.
Ich konnte nicht einschlafen. Mir war schlecht.
Auch sie fand keinen Schlaf, doch sie änderte das. Um 3 Uhr nachts sprang sie auf, rannte zur Wohnungstür und sagte zu mir: „Raus!“ Niemand hatte es je gewagt, so mit mir umzuspringen. Ich respektierte ihren Mut – und ging sofort.
Unten auf der Straße fiel mir ein, dass um diese Nachtzeit weder Busse noch Züge fuhren. Autos waren auch selten unterwegs. Wie sollte ich verdammt noch mal zurückkommen? Auf keinen Fall ging ich zurück bei Ingrid klingeln. Für mich war diese Affäre beendet!
Ich fing an zu laufen. Wirklich niemand unterwegs. Ich kam bis zur Landstraße und auf ihr soweit, bis es anfing zu regnen. Da war eine Bushaltestelle, der nächste Bus jedoch erst in vier Stunden. Ich wollte auf das Ende des Regens warten. Ich war übermüdet, mein Stolz verletzt. Ich legte mich mit meinen Klamotten in eine trockene Ecke auf den kalten Boden des Bushäuschens und versuchte zu schlafen.
Geweckt wurde ich vom ersten Berufsverkehr. Diejenigen, die super früh los müssen. Ich hielt den Daumen raus. Es hatte noch nicht aufgehört zu regnen. Bald hielt schon jemand an. Ich war so dankbar, brachte aber kaum einen Ton heraus. In dem Auto war es schön warm. Der Typ war jung, langes, lockiges Haar und lächelte.
Am nächsten Bahnhof ließ er mich raus. Geld für ein Ticket hatte ich. Wieder Pendler zwischen denen ich saß und fast niemand redete. Für sie wiederholte sich die Woche bis Freitag, dann war Wochenende. Und ich? Wem sollte ich erzählen, dass mich Ingrid aus der Wohnung geworfen hat, weil ich nicht schlafen wollte?

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