Hochsommer. Er sitzt an der Bushaltestelle auf dem Platz zwischen dem Museum und dem germanistischen Institut. 100 Jahre fühlt er sich alt. Gegenüber ein Café, darunter Tiefgarage und die Haltestelle, wo er eigentlich in seinen Bus steigen könnte, um nach Hause zu fahren. Aber er will nicht. Gestern hat ihn jemand auf 39 geschätzt. Ha! Schulkinder kommen vorbei, unterdrücken ihr Kichern. Er setzt die Sonnenbrille auf. Glupschaugen. Heute macht der Regen Pause und die Hitze drückt sich an die Wände der Gebäude. In ihm ist es leer. Zu Hause ist es leer. Morgen hat er Geburtstag. Es wird ein leerer Tag. Mit starrer Miene zündet er sich eine Zigarette an. Ein Bus hält, Leute steigen aus und Leute steigen ein. Der Fahrer gibt Gas und das Fahrzeug verschwindet. Er fühlt sich wie in der Mitte von irgendwas. Zwischen Gut und Böse. Zwischen Trauer und Hoffnung. Morgen gibt es kein Zurück mehr, dann ist er ein alter Sack. Wenn es stimmt, dass man so alt ist, wie man sich fühlt, dann ist er heute schon uralt. Er steht auf. Schnippt die Kippe weg. Klopft die Asche von seiner Hose. Geht rüber, um nach Hause zu fahren. „Dann gehe ich es an“, denkt er. Auch den morgigen Tag wird er überleben.
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Schwalbenflüge
Als ich in den wilden 90ern einige meiner Geburtstage, und darunter auch meinen 30., wieder zu Hause bei meinen Eltern feierte, hat meinen Vater einen weisen Spruch geäußert, den ich niemals vergessen werde.
Man muss sich die Situation so vorstellen. Es ist Sommer, die Schwalben fliegen tief über den Hinterhof meiner Eltern. Zur Vorbereitung werden Tische und Stühle hinausgestellt, auch ein Grill wird vorgeheizt. Dann kommen die Lieblingsfreunde von nah und fern, manchmal kommt auch einfach noch jemanden mit. Und jeder bringt etwas mit. Bier, Grillfleisch, Salate, Chips, etc. Auch gab es schon mal wunderbare Kirschen vom eigenen Baum. Der Abend lebt von Spontanität. Ich sorge für die Beschallung mit Musik. Nicht aufdringlich laut, die Mini-Anlage ist vom Küchenfenster aus, das zum Hof zeigt, bedienbar. Pop, Rock, Worldmusic (z. B. Jam Nation: Sleeping / Awakening; das Album „One World One Voice“). Dass es allen gefällt, zeigt sich daran, dass niemand gehen will. (Und dass alle im nächsten Jahr wiederkommen.)
Inzwischen ist es dunkel geworden, doch immer noch warm genug. Und meine Mutter hat wunderbare Lichter gebastelt, aus Marmeladengläsern o. ä. mit Transparentpapier drum herum. Meine Familie ist immer mit eingeladen, meine Schwestern und die Eltern. Und mein Vater hat am meisten Spaß dabei, denn leckere Bierchen bekommt er selten.
Spät abends. Neben mir sitzen Mirjam und Marcel, beide frisch verheiratet. Mir gegenüber mein Vater. Er ist kein großer Philosoph, auch kein Stratege. Als er erfährt, dass meine Freunde verheiratet sind, sagt er: „Ich wollte heiraten, damit ich im Alter nicht allein bin.“ Mirjam nickt gerührt. Ich schaue meinen Vater an. Er ist jetzt alt. Und er ist nicht allein. Meine Eltern haben einander. Auch heute noch.
Mein Vater hat nie verstanden, dass ich mich nicht ums Heiraten kümmere. Und ich habe immer geglaubt, es geht auch ohne. Nur, allein zu sein, wenn man älter wird, ist schlicht bitter …
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Leere
Die Abwesenheit von etwas. Weil etwas fehlt. Nicht vorhanden ist.
Weil man ohne Freude, ohne Gesellschaft, ohne Selbstvertrauen ist.
Überall Überfluss nur nicht hier. Die Pause im Lebenslauf.
Kein Erfolg, kein Gefühl, keine Hoffnung.
Die Abstinenz guter Nachrichten. Ohnmacht. Hilflosigkeit.
Fehlende Wärme und Geborgenheit.
Leere ist das neue Stichwort für die Hausaufgabe meiner Autorengruppe Und leer der Blick bei Schlaflosigkeit aus dem Fenster.
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Sonntagsbild 323
Tageszeit: Morgen
Sonnenaufgang: 7:57 Uhr
Wetter: man weiß schon länger nicht mehr, was Sonne ist & 4 °C
Stimmung: gut ist was anderes
Chrizzy, der noch nicht friert…
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Herzensangelegenheit
Der Anruf kam, als ich mir gestern von der Arbeitswoche geplättet eine DVD anschaute. Rechts die Erdnussflips, links Fernbedienung und Telefon.
Es war ihr Mann. Und viel sagte er nicht. Sie hätte es überstanden, das waren seine Worte.
Ich ließ den Film Film sein und krabbelte unter der Decke hervor, und während ich mir einen Tee aufgoss, dachte ich nach.
Wer da gerade etwas überstanden hatte, war eine Freundin, die sich einer Herzoperation unterziehen musste. Mein Gott, sie ist jünger als ich, und musste an sich das Gleiche machen lassen wie mein Vater damals.
Ich habe daher erlebt, dass so eine OP auch ein Eingriff in das emotionale Zentrum ist. Wer Körper und Seele trennt, ist immer auf dem Holzweg. Wenn sie es „überstanden“ hätte, hoffte ich für sie, sie wird es auch psychisch verkraften.
Bei all den Enttäuschungen, den Kränkungen und menschlichen Zurückweisungen, die man erlebt hatte, könnte man von Narben auf dem Herzen sprechen, fiel mir ein. Narben sind wetterfest und nahezu unvergänglich. Es hat einen etwas geprägt und im günstigsten Fall machte man das Beste draus.
Ich konnte nicht mehr sagen, wie mein Vater seine Herz OP überstanden hat, es waren bestimmt nicht bloß die Medikamente. Er hatte unser aller Unterstützung. Sein Eingriff liegt mehr als 25 Jahre zurück und dieses Jahr feierte er seinen 83. Geburtstag. Geistig rege und ohne Hilfe mobil.
Daher wünschte ich meiner Freundin beste Betreuung, eine erholsame Reha, und dass wir unser nächstes gemeinsames Treffen nicht verschieben müssen, um sie – Herz an Herz – umarmen zu können.
Als ich wieder an meinen Tee dachte, war der Teebeutel noch drin und die Tasse kalt geworden.
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Sonntagsbild 320
Sonnenaufgang: 7:22 Uhr
Tageszeit: Nachmittag
Wetter: mehr oder weniger bewölkt & 16 °C
Stimmung: gut
Chrizzy, der weiß, bald rauchen sie wieder…
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