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Als ich vor fast 20 Jahren als Mieter in dieses Haus einzog, hielt ich es für selbstverständlich, an jeder Tür zu klingeln und mich als der Neue vorzustellen, wenn mir aufgemacht wurde.
Seitdem hat das kaum ein anderer noch gemacht. Dabei ist das Ein- und Ausziehen bei den neun anderen Wohnungen erheblich.
Heute bin ich zudem der Troll, an dem es kleben bleibt, die Pakte der Nachbarn anzunehmen. Meine eigenen Sendungen nimmt der Bote stets wieder mit, wenn ich nicht da bin, weil kein anderer aufmacht.
Wir haben es verlernt mit den Menschen, mit denen wir unter einem Dach leben, verbindlich umzugehen. Außer ein kurzer Gruß im Treppenhaus wird Wert auf Anonymität gelegt. Als Krankheitsbild wäre das soziale Phobie.
In Städten und Ballungszentren ist das gewollt und wird hingenommen. Würde ich die soziale Kontrolle, die Neugier und die Forderung nach Integration in eine tradierte Gemeinschaft einer Nachbarschaft in einem kleinen Bergdorf wollen? Eher nicht.
Aber jetzt gibt es etwas Neues. Bei einer Internetplattform kann man sich als Bewohner seines Stadtviertels registrieren lassen. Man kann sein Profil einstellen und mit einem Bild versehen, Interessen angeben und Hilfen anbieten. In diesem sozialen Netzwerk kann man Menschen seines Viertels kennen lernen, gemeinsam etwas unternehmen, sich gegenseitig helfen etc.
nebenan.de – Die Idee kommt aus Berlin und hat schon den Preis „Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen 2016“ von der Bundesregierung bekommen. Es ist alles gratis und seriös.
Aber was ist mit den sehr alten Menschen, die das Internet nicht benutzen? Und was sagt das über uns als Gesellschaft aus?
Brauchen wir erst eine Internetseite oder eine App, um uns zu begegnen? Brauchen wir erst ein webbasiertes Netzwerk, um jemanden unsere Bohrmaschine zu leihen? Brauche ich erst eine elektronische Verabredung, um mit einer Studentin, die drei Ecken weiter wohnt, über Bücher zu reden, wenn wir hintereinander in der Schlange an der Kasse vom Supermarkt stehen? Wenn ich nackt im Regen um den Block jogge, würde es jemanden auffallen? Ist ein hochgeladenes Handy-Video mit süßen Kätzchen authentischer als ein realer Kuss, bei dem der Puls schneller geht? Wissen wir noch, was wir wirklich wollen? Oder leben wir in einem Aquarium: anschauen, ja, anfassen, nein!

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